Aug 20 2015
Moeller, Michael Lukas: Worte der Liebe. Erotische Zwiegespräche, ein Elixier für Paare. Rororo (1998, 10. Auflage), 336 Seiten
Zerredet das Sprechen über Sex nicht die schönste Sache der Welt? Klienten und Vortragspublikum stellen immer wieder diese berechtigte Frage. Die Konjunktur von Embodiment und Erfahrungsorientierung in der Psychotherapie führte sinnvollerweise dazu, dass der Körper auch in der Sexualtherapie mehr denn je in der Therapiesitzung vorkommen darf und nicht nur in der Besprechung sexueller Hausaufgaben. Auf dem Höhepunkt meiner eigenen diesbezüglichen Inspiration ist es vermutlich kein Zufall, dass mir im Sinn einer dialektischen Gegenbewegung ausgerechnet der Klassiker „Worte der Liebe“ von Möller wieder in die Hände fiel. Was für ein leidenschaftliches Zeugnis des Hölderlinwortes der Liebe „Wir sind ein Gespräch“. Der 2002 verstorbene Psychoanalytiker, Paartherapeut und Professor für Medizinische Psychologie Moeller sieht die Kultivierung der eigenen Erotik und die erotische Selbstintegration als „die dritte Blüte des Menschen“ und „die seelische Geburt der Sinnesfreude“ an. Wunderbare Begriffe für erotische Entwicklung im Erwachsenenalter! Dabei setzt er voll auf die Sprache als Medium, etwas vor sich selbst und vor dem anderen zu explizieren und damit zu begreifen und sich durch das Sprechen und Zuhören gegenseitig zu berühren, zu inspirieren, weiterzuführen. Intimität im Gespräch als Gegengift zur „kontraktreichen Beziehungslosigkeit“.
Die Methode ist simpel: Zwei Menschen, z.B. ein Liebes-, Freundes-, Geschwisterpaar trifft sich zum Gespräch über das Erleben ihrer Erotik von der Kindheit an bis jetzt. Spezifischere Themenschwerpunkte sind ebenso möglich. Über die Dauer des Gesprächs sollen Sprechen und Zuhören zwischen den Gesprächspartnern etwa gleich verteilt sein. Was geschieht dabei? Das kommt auf die Gesprächspartner an. Im Gesprächsverlauf vertiefen sich oft Bedeutungen und Gedanken, Erinnerungen und neue Ideen werden angeregt, wechselseitige Durchdringung wird möglich. Konflikte werden sichtbar, und im besten Fall kann, wie Möller schreibt, ein „lebendigen Kompromiss“ entstehen, in dem erfahren werden kann: Ich darf, ich muss sogar ich bleiben und kann dennoch mit Dir verbunden sein und mich zu Dir neigen. Damit lässt sich Moellers Reichtum der psychoanalytisch geprägten Sprache und die assoziative Natur seiner Methode mit Schnarchs Differenzierungsgedanken und der systemisch hoch anschlussfähigen Idee der Re-kommunikation von Gemeinsamkeit wie Unterschied und somit der Verhandlung von Realitäten im Paarsystem bestens vereinen. Auch in Analogie zum sexuellen Akt hat dieser assoziative Gesprächsfluss viel für sich: Ein offener Beginn, ein Wechselspiel, ein Innehalten, ein Fahrtaufnehmen, eine Windung oder ein Seitenarm, ein Tauchgang, ein Zurückgleiten in den großen Strom.
Die Struktur des Buches könnte man ebenfalls als assoziative Reihung bezeichnen: Theoretisierende und reflektierende Kapitel wechseln sich mit Transkripten erotischer Zwiegespräche ab. Die Seitenränder sind durchgängig gesäumt mit Zitaten. Das ist gewöhnungsbedürftig und setzt mehr auf Reichtum als auf Stringenz. Wie immer gilt die Einschränkung, dass die Methode zu den Klienten mehr oder weniger passen kann. Die Beispiele im Buch stammen fast ausnahmslos von sprachlich relativ „fortgeschrittenen“ Gesprächspaaren, die ihre Erotik reflexiv weit verfügbar und spürbare Lust am Sprechen haben. Dies trifft nicht auf Jeden zu, und manche Klienten könnten sich durch Buchlektüre wie Gespräch vielleicht eher befremdet fühlen. Für die meisten Leser – und Anwender – dürfte gelten: Anregend, unmittelbar erotisierend, sehr ermutigend. Für alle, die die Sprache als Ausdruck unseres Menschseins lieben und gerne benutzen.
Aug 25 2016
Nagoski, Emily: Come as You Are – The Surprising New Science that Will Transform Your Sex Life
Auf deutsch erschienen unter dem Titel: Komm’ wie du bist – das neue Frauen-Sexbuch: Knaur.
Dieses Buch ist zu Recht ein New York Times Bestseller geworden. Der Sexual- und Gesundheitswissenschaftlerin Emily Nagoski ist es brilliant gelungen, den neusten Stand der Forschung zur weiblichen Sexualität nicht nur pointiert und äußerst anschaulich darzustellen, sondern ihn auch erfrischend direkt in die Praxis zu übersetzen. Chapeau! Damit trifft sie natürlich den Nerv der Zeit und setzt zugleich kraftvoll gegen die pharmakologische Antwort auf die sexuelle Lustlosigkeit der Frau an. Mit dem Buch „What do women want?“ hat vor einigen Jahren der Journalist Daniel Bergner bereits den Blick der Forschung auf die Sexualität der Frau einem breiten Publikum zugänglich gemacht. An Bergners Interpretation der Forschungsergebnisse störte mich, dass er das Bild eines an sich starken weiblichen Begehrens zeichnete, welches im Wesentlichen kulturell unterdrückt sei. Das ist zu schlicht und polemisch. Nagoski kommt differenzierter daher und geht in ihrem Buch zudem einen Schritt weiter, indem sie in der Anwendung konkret wird. Außerdem pathologisiert sie fehlendes Begehren nicht, sondern normalisiert und plausibilisiert die Erfahrung sexueller Lustlosigkeit (abgesehen davon, dass sie natürlich ein Buch darüber schreibt, wie es Frauen zugänglicher wird).
Nagoski bezieht sich wesentlich auf das Dual Control Model der Sexualität, welches postuliert, dass im sexuellen Erleben ein hemmendes und ein erregendes System bei jeder Person auf unterschiedliche Weise zusammenwirken. Wie dies geschieht, hängt außer von der Prädisposition wesentlich und vor allem bei Frauen vom Kontext ab. Ihre nicht weniger kluge als schlichte These und ihr praktischer Ansatz lauten: Schaffe aktiv Kontexte, die es erlauben, dass hemmende Einflüsse sich weniger stark auswirken und erregende Einflüsse auf deine Sexualität eine Chance erhalten. Dieser einfache Ansatz wird durch die Beschreibung kultureller, emotionaler, sozialer und körperlicher Kontexte, in denen Frauen sich bewegen, veranschaulicht und durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauert. Die Themen sind bekannt, z.B. Stress und seine Auswirkungen auf sexuelles Erleben, viele der vorgeschlagenen Interventionen ebenfalls. Das Bestechende des Buches liegt aber in der Schlüssigkeit, Anschaulichkeit und Kraft ihrer Legimitation.
Das Buch hat auch einen aufklärerischen, ermutigenden und normalisierenden Charakter für die mehr oder weniger sexuell an sich oder am Partner verzagende Frau. Dies wird stilistisch durch direkte Ansprache der Leserin und jede Menge Storytelling appellativ verstärkt. Stilistisch wirkt es dadurch erfrischend und pointiert, sehr humorvoll bis ironisch, an manchen Stellen vielleicht etwas zu amerikanisch vereinfachend und mit etwas zu viel Power pro Sekunde. Es erreicht klar nicht die individuelle Tiefe einer Sexualtherapie, die Prinzipien des Buches lassen sich aber wunderbar in die Therapie integrieren. Das Buch eignet sich zur Lektüre für Klientinnen und Klienten.
By Angelika Eck • Buchempfehlungen, DrEcksBücher •