Paz, Octavio: Die doppelte Flamme. Liebe und Erotik.

Fünf Jahre vor seinem Tod erschien der Essay des Diplomaten und mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten mexikanischen Schriftstellers 41nosaj0h5LOctavio Paz (*1914, †1998). Seine Frage: Wie lassen sich Sexualität, Erotik und Liebe unterscheiden und aufeinander beziehen? Paz wählt die Metapher der doppelten Flamme: „Das Urfeuer, die Sexualität, weckt die rote Flamme der Erotik, und diese nährt eine weitere Flamme, die blau und flackernd sich erhebt: Die der Liebe.“ (S.12)

In neun Kapiteln entfaltet Paz seine Argumentation in einem galanten Bogen wie ein dicht gewebtes, vielfarbiges Tuch: Er wirkt es aus Kultur- und Philosophiegeschichte, hebt darauf Perlen erlesener Lyrik als Exempel ihrer Zeit hervor und lässt alles zusammenfließen in seine Positionen, die im Verlauf des Textes deutlicher werden und in das Bild der doppelten Flamme münden. Worum geht es?

Um den Sexus als Ursprung allen Lebens. Um die Erotik, die den Sexus bändigt in Zeremonie und Ritus, ihn durch die Imagination vom Zweck der Fortpflanzung löst. Die in sich die Faszination des Lebens und des Todes trägt, sich in Abstinenz und Ausschweifung spiegelt, in Askese und Libertinage. Von der Reinheit der platonischen Liebe, die für Paz Erotik ist, weil universell ausgerichtet, Liebe hingegen als hochpersönlich, als Begegnung, als Freiheit zum Ja und Nein und als Sehnsucht nach dem Anderen und dessen freiwilliger Einwilligung, werden wir zum ersten Liebesgedicht von Theokrit (3. Jh. Vor Chr.) geführt. Paz zeigt, wie mehrfach in der Geschichte die Liebe möglich wurde durch gesellschaftliche Veränderungen und ein neues, freieres Frauenbild. Für den Okzident stellt er die höfische Liebe im Frankreich des 12. Jahrhundert als kulturelle Form heraus, deren Charakteristika in unzähligen Metamorphosen bis heute zentral sind. Über die Liebe sagt Paz: „Die Liebe ist die finale Metapher der Sexualität. Ihr Grundstein ist die Freiheit: Das Mysterium einer jeden Person. Es gibt keine Liebe ohne Erotik , so wie es keine Erotik ohne Sexualität gibt.“ Die Ausschließlichkeit der Liebe ist für Paz gekennzeichnet durch Antagonismen, in denen sie sich bewegt und die sie punktuell aufhebt: Die bewusste Erwählung der Person, die mich unweigerlich anzieht, die freiwillige Unterwerfung, die Aufhebung der Trennung von Körper und Seele des Geliebten, indem ich seinen Körper als beseelt erlebe.

Im Kapitel „Umwege zu einer Schlussfolgerung“, rezipiert Paz den damals aktuellen Stand der Wissenschaft, den Verlust des Konstrukts der Seele als elementaren Bezugspunkt für die Einzigartigkeit der Liebe besorgt feststellt und dafür plädiert, wenn schon nicht die Seele, so doch die Person gesellschaftlich, politisch und individuell wieder zentral werden zu lassen. die Notwendigkeit, die Person wieder einzuführen. Der argumentative Umweg irritiert, ist durch Paz’ Verbindung von Politik und Literatur aber nachvollziehbar.

Was sagt uns dieses Buch heute? Vieles, was da über die Liebe, die Erotik und ihre Ursprünge erzählt wird, ist mir im Einzelnen nicht neu gewesen. Aber wie, mit welcher Poesie und ästhetischer wie argumentativer Überzeugungskraft es erzählt und schlussfolgernd verdichtet wird, hinterlässt eine Spur über den ästhetischen Genuss hinaus. Als Leserin meiner Generation erwischte ich mich bei der Hoffnung, dass unsere Zeit noch Autoren solchen Formats hervorbringen möge und dass auch meine Kinder sich an solchen Worten und gedanklichen Suchprozessen ernähren wollen. Für alle Dialektiker ist das Buch ein Fest, ebenso für alle Paar- und Sexualtherapeuten, die sich anlässlich dieser Ausführungen beglückwünschen können, einen so mysteriösen Beruf ausüben und darin alles Beschriebene „leibhaftig“ erleben zu dürfen: Existenzielle Fragen von Leben und Tod, Freiheit, Erotik und Liebe. Poesie.