ZEITmagazinONLINE: Wir müssen reden – Was kann ich als Liebhaber anbieten?

Interviewerin: Wenke Husmann

9. April 2015, 11:36 Uhr

ZEITmagazin ONLINE: Unsere Kolumne heißt zwar Wir müssen reden, aber das fällt sicherlich vielen Paaren im Fall von Erektionsproblemen besonders schwer. Ist es überhaupt das Richtige, zu reden?

Ulrich Clement: Kommt darauf an, wer mit wem redet und was man sagen will.

ZEITmagazin ONLINE: Also angenommen, es kommt in einer bestimmten Paarsituation zu einer Erektionsstörung, landläufig Impotenz genannt, dann…

Clement: …da muss ich gleich einhaken. Erektionsstörung und Impotenz sind zwei verschiedene Dinge. Die Gesellschaft setzt beides oft gleich, und diese Gleichsetzung einer körperlichen Funktion mit Männlichkeit suggeriert etwas, das Teil der Problematik ist. Wir müssen unterscheiden: Erektion ist die Fähigkeit des Penis, steif zu werden. Potenz ist die Fähigkeit eines Mannes, eine befriedigende Sexualität zu erleben. Das ist nicht identisch. Man kann auch ohne Erektion eine befriedigende Sexualität haben – und umgekehrt auch mit Erektion eine unbefriedigende. Der Begriff Impotenz beschränkt sich nicht auf den Ausfall einer Erektion, sondern er generalisiert und macht gewissermaßen den ganzen Mann haftbar. Wenn man sich als Mann tatsächlich mit der Erektion identifiziert, macht man sich auf unangenehme Weise von ihr abhängig.

ZEITmagazin ONLINE: Womöglich nennen wir eine erektile Dysfunktion auch deshalb Impotenz, weil sie in einem eklatanten Gegensatz steht zu dem Bild von dem potenten Mann – auch im übertragenen Sinne. Immerhin benutzen wir Redewendungen wie: “Der steht seinen Mann im Job.” Gibt es einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlich tief verankerten Bildern und der Ursache für Erektionsstörungen?

Clement: Ein Mann kann das so erleben. Dabei können Erektionsstörungen ganz unterschiedliche Ursachen haben: Nebenwirkungen von Medikamenten beispielsweise oder von Krankheiten wie Diabetes. Es kann aber auch sein, dass ein Mann nur bei einer bestimmten Partnerin oder auf eine bestimmte Weise nicht kann. Problematisch wird es immer dann, wenn der Mann das nicht unterscheidet und die Dysfunktion auf sein gesamtes Selbstbild ausweitet.

ZEITmagazin ONLINE: Warum ist die Wirkung einer Erektionsstörung so gewaltig? Selbst wenn es, wie Sie eben sagten, banal körperliche Ursachen hat.

Clement: Man muss unterscheiden zwischen dem, was real passiert – der Penis wird nicht steif –, und der Bedeutung, die man dem gibt. Nehmen wir zum Beispiel einen Mann, der mit seiner Partnerin zusammen ist, und die Erektion stellt sich nicht oder nur halbstark ein. Dann hat er die Wahl. Er kann sagen: Na ja, kommt vor, machen wir eben was anderes. Oder er denkt sich: Oh je, das darf jetzt aber nicht passieren! und bricht das ganze Spiel ab. Oder er sagt: Jetzt haben wir den Beweis: Ich bin kein Mann mehr, und stürzt in eine depressive Phase. All das sind Bedeutungen, die man als Mann der Erektionsstörung geben kann.

ZEITmagazin ONLINE: Und welches Spektrum der Reaktionen zeigt die Partnerin?

Clement: Im Grunde ein ähnliches. Sie kann sagen: Kommt vor. Oder eben auch: Jetzt haben wir den Beweis, dass du mich nicht mehr liebst. Wenn beide nicht aufpassen, können sie in eine große Enttäuschungsfalle geraten.

ZEITmagazin ONLINE: Es ist ja auch eine verzwickte Situation. Selbst wenn ich als Frau ganz souverän sagen kann: Ach Schatz, macht ja nichts. Ich weiß, dass das vorkommt, gibt es womöglich doch auch den Gedanken: Er begehrt dich nicht mehr. Die Verknüpfung zwischen der männlichen Erektion und dem Gefühl, begehrt zu werden, ist sehr eng.

Clement: Ja, der Mythos, dass der Körper nicht lügt, hält sich hartnäckig. Diesem Kurzschluss nicht aufzusitzen erfordert auch von der Frau sexuelles Selbstbewusstsein.

ZEITmagazin ONLINE: Es liegt tatsächlich nahe zu denken: Sein Körper spräche quasi für sein Unterbewusstes.

Clement: Die Erektion ist ein sichtbarer körperlicher Ausdruck, den man lesen kann. Aber auch lesen können muss. Ich bin sehr zurückhaltend darin, eine Erektionsstörung gleich als Symptom einer Beziehungsstörung zu sehen.

ZEITmagazin ONLINE: Gehen wir noch mal zwei Schritte zurück. Eine Erektion kann immer mal ausbleiben, zwei Mal, drei Mal. Ab wann spricht man überhaupt von Erektionsstörung?

Clement: Wenn es eine chronische Angelegenheit wird.

ZEITmagazin ONLINE: Was heißt chronisch?

Clement: Wenn der Mann in keiner Situation mit der Partnerin eine Erektion haben kann – und zwar regelmäßig.

ZEITmagazin ONLINE: Heißt regelmäßig aber nicht auch, wenn es jedes fünfte Mal passieren kann?

Clement: Nein, das wäre völlig normal. Von Erektionsstörung spricht man, wenn es so gut wie gar nicht mehr zu einer Erektion kommt.

ZEITmagazin ONLINE: Dann klärt man mögliche körperliche Ursachen ab.

Clement: Die Männer gehen heute meist zuerst zu einem Urologen. Seit es Viagra und ähnliche Mittel gibt, kommt kaum ein Mann mehr als Erstes zum Sexualtherapeuten. Diese Medikamente sind ein Segen. Sie haben kaum Nebenwirkungen und funktionieren gut. Und zwar sowohl bei krankheitsbedingter Dysfunktion als auch in psychogenen Fällen. Dann können die PDE-5-Hemmer, also Mittel wie Viagra, Cialis oder Levitra, zu einer Erektion verhelfen. Allerdings nur, wenn der Mann sexuelle Lust empfindet. Von selbst wirken die Mittel nicht.

ZEITmagazin ONLINE: Kommen wir zu den Fällen, in denen der Mann keine Erektion beim Geschlechtsverkehr hat, aber bei der Selbstbefriedigung schon. Das kann dann keine körperlichen Ursachen haben?

Clement: Wenn die Erektion in diesen Fällen gut funktioniert, nicht.

ZEITmagazin ONLINE: Diese Betroffenen landen dann wohl eher bei Ihnen in der Praxis. Wie helfen Sie solchen Paaren?

Clement: Ich achte zunächst darauf, welche Art von Störung vorliegt. Eine körperliche? Hängt sie mit der Frau zusammen? Und ich schaue sehr genau, wer den größeren Leidensdruck hat. Beide? Nur der Mann? Oder leidet die Frau womöglich stärker als er? Denn es gibt auch den Fall, dass sie seine Sexualität, seine Vorlieben, seinen Stil nicht annehmen kann oder mag. Dann fällt es ihm womöglich leichter zu sagen Ich kann nicht statt Ich will nicht. So nämlich vermeidet er einen Konflikt, weil er kann er ja nichts dafür kann, sondern “Opfer” seiner Störung ist. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Nicht-Können und Nicht-Wollen. Ich bespreche mit dem Mann, inwieweit er sich wieder zum Gestalter seiner Sexualität machen kann und nicht angesichts seiner Erektionsstörung resigniert. Dazu gehört, dass er sich fragt: Was kann ich als Liebhaber anbieten? – unabhängig von einer Erektion. Es gibt sehr unterschiedliche Liebhaber-Typen, den Romantiker, den Stürmischen, den Fürsorglichen… Es ist ein bisschen wie im Fußball, wo es auch unterschiedliche Rollen gibt.

ZEITmagazin Online: Aber beim Fußball leuchtet der Name des Stürmers an der Anzeigentafel auf, weil der am Ende das Tor gemacht hat.

Clement: ….und jeder weiß, dass eine Mannschaft mit lauter Stürmern nicht funktionieren würde.

ZEITmagazin ONLINE: Was können Sie für Männer tun, die aufgrund einer körperlichen Krankheit keine Erektion mehr erleben?

Clement: Sie können lernen, ihr Sexualleben neu zu gestalten. Allerdings nur dann, wenn diese Männer mit der Erektionsstörung nicht das Denken aufhören, sondern damit anfangen. Da gibt es einige Möglichkeiten, eine befriedigende Sexualität ohne Erektion zu leben.

ZEITmagazin ONLINE: Kann man denn als Mann einen Orgasmus haben ohne Erektion?

Clement: Ganz ohne Erektion ist es schwierig, aber mit einer halbmüden Erektion geht das durchaus. Ich würde aber die herausgehobene Bedeutung des Orgasmus relativieren. Es gibt nicht wenige Männer, für die es eine größere Befriedigung ist, ihre Partnerin  zu befriedigen. Manche Paare können mit dieser Einschränkung gut leben, andere sagen: Na gut, dann war’s das halt. Wir können trotzdem weiter zusammenleben, weil wir auch mit anderen Dingen genug Spaß haben. Und schließlich kann es natürlich auch sein, dass die Erektionsstörung tatsächlich der Anfang vom Ende ist und beide merken, dass diese Beziehung nicht mehr weitergeht.

ZEITmagazin ONLINE: Spielt es eigentlich eine Rolle, dass es dieses Problem so sichtbar nur auf Seiten der Männer gibt?

Clement: Ja. Eine Frau kann immer selbst entscheiden, ob sie dem Partner ihre Orgasmusstörung verschweigt – sofern er das nicht merkt. Eine Frau, die keinen Orgasmus hat, kann dennoch Verkehr haben. Ebenso wie sie, wenn sie nicht feucht wird, Gleitcreme beim Sex benutzen kann. Ob das schön ist, ist eine andere Frage. Aber die Frau blamiert sich nicht, wenn sie keinen Orgasmus hat. Diese Beschämung wird bei der ausbleibenden Erektion viel eher erlebt.

ZEITmagazin ONLINE: Ganze Schimpfwörter wie “Schlappschwanz” zielen darauf ab.

Clement: Womit wir wieder bei dem kulturell verankerten Bild sind. Es gibt alle möglichen Beleidigungen für Männer mit Erektionsstörungen. Was Frauen betrifft, ist das Arsenal weit ärmer. Es gibt den beleidigenden Begriff Frigidität, aber der spielt nicht diese Rolle.

ZEITmagazin ONLINE: Gibt es günstige und ungünstige Stellungen?

Clement: Für manche Männer mit einer unsicheren Erektion sind bestimmte Positionen günstiger. Dazu gehören aber zwei, insofern lässt sich das nur paarweise beantworten. Gerade wenn Paare lange zusammen sind, haben sie sich auf eine Routine eingespielt und vermeiden, andere Stellungen auszuprobieren, die günstiger sein können. Manche Männer können beispielsweise auch ihr schlaffes Glied einführen, das dann intravaginal steif wird.

ZEITmagazin ONLINE: Erektionsstörungen nehmen im Alter deutlich zu: Von den 40-Jährigen sind ungefähr zwei Prozent betroffen, von den 60-Jährigen schon rund die Hälfte. Gibt es das Problem überhaupt bei jungen Mittzwanzigern? Und was macht dann ein solcher?

Clement: Sicher, das kommt auch vor. Und er ist dann subjektiv meist schlimmer dran als ein älterer Mann.

ZEITmagazin ONLINE: Warum?

Clement: Es könnte ihn angesichts der sexuell aktiven Gleichaltrigen sehr einsam machen. Womöglich kann er mit niemandem darüber sprechen und hat im Vergleich zu einem Älteren nicht dessen sexuelle Erfahrung und Gelassenheit. Wenn jemand mit 60 Jahren Erektionsprobleme bekommt, findet er sich leichter damit ab, dass es nun langsam ausläuft. Er kann auf ein paar Jahrzehnte aktives Sexualleben zurückblicken mit dem befriedigenden Gefühl “I’ve had it”.

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